Bocholt. Bocholt hat sich, wie viele andere Kommunen auch, für ein neues Jenoptik-Geschwindigkeitsmesssystem entschieden. Entscheidender Vorteil des neuen Systems ist, dass dieses System die Geschwindigkeitsüberwachung ohne Personal durchführen kann. Ist das Gerät an der Messstelle von dem Messbeamten einmal ordentlich in Betrieb genommen, so kann es autonom die Messungen durchführen. Ein solches Messsystem soll vor allem Personalkosten sparen. Doch wie zuverlässig ist das neue System? Tim Rathner, Fachanwalt für Verkehrsrecht in Bocholt, hat sich mit dem Thema auseinander gesetzt.
Wie zuverlässig ist das System?
Rathner: „Diese Frage lässt sich leider nicht so einfach beantworten. Hintergrund ist das TraffiStar S350 System, das die Rohmessdaten nur unvollständig speichert. Aber von vorne: Das TraffiStar S350 ist ein System, dass mit einem Laser arbeitet. Jedes Fahrzeug im Messbereich wird von Laserstrahl mehrfach erfasst, reflektiert diesen Strahl und anhand der Reflektionen kann die gefahrene Geschwindigkeit ermittelt werden. Dabei kann das Messsystem mehrere Fahrstreifen gleichzeitig überwachen und außerdem zwischen PKW, LKW und Motorrad unterscheiden.”
Wo ist das Problem?
„Leider werden die Einzelmessungen und die dazugehörigen Geschwindigkeitswerte nicht gespeichert, so dass die nachträgliche Überprüfung der Messung und insbesondere die nachträgliche Plausibilitätsprüfung des gemessenen Geschwindigkeitswertes nicht möglich ist, weil die Zeitdifferenzwerte nicht gespeichert werden”, erklärt der Fachanwalt für Verkehrsrecht. „Untechnisch gesagt, dass Gerät speichert das Endergebnis, aber nicht den Rechenweg der Kettenaufgabe.
Das Problem dabei ist, dass die Gerichte eine ordnungsgemäße Messung bei einem gültig geeichten und ordnungsgemäß in Betrieb genommenen Messsystem unterstellen dürfen, wenn die Fahrer des zu schnellen Fahrzeugs nicht Tatsachen vorträgt, welche daran zweifeln lassen. Ohne Rechenweg ist der Rechenfehler aber nur schwer zu benennen!”
Rechtsprechung mit deutlichen Worten
Das saarländische Verfassungsgerichtshof findet hier deutliche Worte:
Fehlt es an ihnen [Anm. den Rohmessdaten] vermag sich eine Verurteilung nur auf das dokumentierte Messergebnis und das Lichtbild des aufgenommenen Kraftfahrzeugs und seines Fahrers zu stützen, so fehlt es nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofs an einem fairen rechtsstaatlichen Verfahren. Das ist auch dann der Fall, wenn er [Anm. der betroffene Fahrzeugführer] zunächst keine auf der Hand liegende Einwände — beispielsweise die mit dem Messergebnis unvereinbare bauartbedingte Geschwindigkeitsdrosselung oder sich aus dem Lichtbild offenkundig ergebende Unklarheiten — vortragen kann. Denn zu einer wirksamen Verteidigung gehört nicht nur, ein Gericht auf solche ihm ohnehin ins Auge fallenden Umstände aufmerksam zu machen, sondern nachforschen zu können, ob es bislang gerade nicht bekannte Zweifel an der Tragfähigkeit eines Vorwurfs gibt. Wenn zu den rechtlichen Rahmenbedingungen eines standardisierten Messverfahrens zählt, sich mit Einwänden gegen seine Ergebnisse wenden zu dürfen, so darf einem Betroffenen nicht von vornherein abgeschnitten werden, solche Einwände erst zu ermitteln. Muss das Gericht die näheren technischen und physikalischen Umstände der Geschwindigkeitsmessung im Rahmen des standardisierten Messverfahrens nicht aufklären und bliebe die Aufklärung zugleich auch dem Betroffenen verwehrt, würde die Tatsachengrundlage der Verurteilung letztlich jeder gerichtlichen Überprüfung entzogen. Gibt es aber keine zwingenden Gründe, Rohmessdaten nicht zu speichern, und erlaubt ihre Speicherung, das Ergebnis eines Messvorgangs nachzuvollziehen, so ist es unerheblich, dass es sich bei Bußgeldverfahren um Massenverfahren von in aller Regel geringerem Gewicht für einen Betroffenen […], und dass in der weit überwiegenden Zahl aller Fälle Geschwindigkeitsmessungen zutreffend sind. Rechtsstaatliche Bedingungen sind nicht nur in der weitaus überwiegenden Mehrzahl aller Fälle zu beachten, sondern in jedem Einzelfall.“ Urteil v. 05.07.2019
Rathner: „Kurz gesagt: der saarländische Verfassungsgerichtshof hält den TraffiStar S 350 für ein unzulässiges Messsystem, weil es gegen rechtsstaatliche Grundsätze wie dem Recht auf ein faires Verfahren verstößt. So haben auch bereits zahlreiche Amtsgerichte wie St. Ingbert, Neunkirchen, Stralsund bei solchen Messungen den Fahrzeugführer freigesprochen.”
OG Hamm bislang (noch) anderer Meinung
Leider sei das Oberlandesgericht Hamm, das für Bocholt höchste Gericht in Bußgeldsachen, bislang (noch) ganz anderer Meinung:
„Es ist inzwischen bereits mehrfach mit überzeugender Begründung obergerichtlich entschieden worden, dass entgegen der mit der Rechtsbeschwerdebegründung angeführten und für den Senat nicht bindenden Entscheidung des Saarländischen Verfassungsgerichtshofs vom 05. Juli 2019 (LV 7/17) die nicht erfolgende Speicherung von Rohmessdaten und die entsprechend unterbliebene Überlassung entsprechender Unterlagen für sich genommen weder eine Verletzung des rechtlichen Gehörs noch einen Verstoß gegen das faire Verfahren darstellen.“ OLG Hamm Beschluss v. 13.01.2020
Risiko falscher Bußgeldbescheide steigt
„Kurzum: aus meiner Sicht stellt das neue Bocholter Messsystem eher einen Fluch da! Es ist jetzt fast unmöglich einen Messfehler, und mag er noch so selten vorkommen, überhaupt zu entdecken und nachzuweisen. Das Risiko von falschen rechtskräftigen Bußgeldbescheiden steigt!” macht Rathner deutlich.
Unser BOH-Lokalpilot-Experte
Tim Rathner wurde 1984 in Wesel geboren. Fachanwalt für Verkehrsrecht ist er seit 2016. Er ist Gesellschafter einer namhaften Anwaltskanzlei in Bocholt, u.a. Vorstandsmitglied im Anwaltsverein Bocholt e.V. und Dozent an der A & S Fahrlehrerschule.